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TRA COLOR CHE SON SOSPESI

(Nicht In Höll‘ Nicht In Himmel Abgenommen)
Aqua Aura – Lidó Rico
03. April -28. Mai 2021

TRA COLOR CHE SON SOSPESI

(Nicht In Höll‘ Nicht In Himmel Abgenommen)
Aqua Aura – Lidó Rico
03. April -28. Mai 2021

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Im vergangenen Jahr wurde die ganze Welt mit einer ungewöhnlichen Situation konfrontiert. Es zwang den meisten Menschen ein beunruhigendes Gefühl der Anspannung auf. Die Abfolge von Lockdowns, Bewegungseinschränkungen, die Unterbrechung der täglichen Gewohnheiten hinterließen uns mit einem Gefühl der Zerbrechlichkeit und Unsicherheit. Die Schwierigkeiten oder sogar Unmöglichkeiten, richtig zu arbeiten, ließen viele von uns mit Virgil und den anderen Seelen fühlen, die Dante Alighieri im Limbus aussetzte — dem Ort nach dem Tod, wo er die großen, ungetauften Geister zum ewigen Warten verurteilte.

Gleichzeitig hat diese Anspannung die Aufmerksamkeit auf existenzielle Fragen gerichtet und die Menschheit dazu gebracht, über die Bedeutung des „Übermenschen“ nachzudenken, die wir als Gesellschaft — und als Einzelwesen — seit viel zu langer Zeit entwickelt haben. Uns wurde vor Augen geführt, welche Konsequenzen diese Haltung für unsere Zivilisation, für die Umwelt und auch für unsere Psyche hatte und immer noch hat. Der Spanier Lidó Rico und der Italienier Aqua Aura beschäftigen sich mit diesem Thema seit vielen Jahren und in Form verschiedener Medien, so dass ein Dialog zwischen beiden in diesen Zeiten fast schon notwendig erscheint.

2021 jährt sich der Tod des legendären italienischen Dichters Dante Alighieri zum 700. Mal. Seine Beschreibung des Limbus passt auf seltsame Weise zu den Gefühlen, die durch den erneuten Lockdown in uns ausgelöst werden. Somit erscheint es absolut angemessen, ihm diese Ausstellung zu widmen.

In TRA COLOR CHE SONO SOSPESI eröffnen wir einen Dialog zwischen der neuesten Werkserie des Meta-Fotografen Aqua Aura — mit seinen dystopischen Ansichten einer post-natürlichen, post-humanen Zukunft, wo das Gefühl des leeren Wartens alles ist, was übrig bleibt — und einer Auswahl von Werken von Lidó Rico, die die Angst vor der Leere und den Verlust von im Leben erworbenem Wissen thematisieren.

Im Hauptraum der Galerie vermitteln die großen weißen leeren Räume der Serie „Farewell Rooms“ von Aqua Aura dem Betrachter ein unmittelbares Gefühl von Beklemmung.
Elegant und hell, jeder sichtbaren Lebensform beraubt, verweisen diese Räume auf unsere Gedankenwelt. Dort, wo unser Geist neue Gedanken ordnet und klassifiziert. Sei es, um unser nächstes Handeln zu planen, oder an unserer inneren Balance zu arbeiten, indem überflüssige Gedankenkonstrukte verworfen werden. Die Ausstattungen der Räume haben zwar eine klare barocke Prägung, werden aber durch die totalitäre Verwendung der Farbe Weiß in die zeitgenössische Ästhetik transponiert. Ihre Eleganz und Würde versinnbildlichen zugleich ein großes Maß an Menschlichkeit: Es sind die Räume des Großmuts, denn edel sind die Gedanken und edel ist die Seele, wenn man sich die Zeit nimmt, an ihnen zu arbeiten.

Io era tra color che son sospesi,
e donna mi chiamo` beata e bella,
tal che di comandare io la richiesi.

Dante Alighieri
Divina Commedia, Inferno, Canto II

Mich, nicht in Höll’ und Himmel aufgenommen,
Rief eine Frau, so selig und so schön,
Daß ihr Geheiß mir werth war und willkommen,

Dante Alighieri
Göttliche Komödie, Hölle,  Gesang II

Im selben Raum zeigt die wirkmächtige Installation „Secadero De Pensamiento“ («Denkender Trockner») des spanischen Künstlers Lidó Rico herabhängende skulptierte Köpfe. Für Lidó wohnt einer Person die ganze Menschheit inne. In diesem Verständnis stellt das Individuum ein Behältnis von universellen Wahrnehmungen und Ideen dar. Die Installation bringt den Schmerz zum Ausdruck, den bestimmte, im Laufe unseres Lebens assimilierte und formulierte Gedanken in uns auslösen. So wie unser Gehirn — die Welt der Ideen — der Ort ist, wo die wahre Kraft des Menschen wohnt, so wird in der Vergänglichkeit unseres Körpers der Konflikt unserer unvermeidlichen Hinfälligkeit und der Verlust unseres geistigen Archivs erfahrbar. „Secadero De Pensamiento“ lässt den Betrachter beim Blick auf die hängenden Köpfe dabei zusehen, wie der Wind des Vergessens sie durchzieht.

„Noi veggiam, come quei c’ha mala luce
le cose», disse, «che ne son lontano;
cotanto ancor ne splende il sommo duce.

Quando s’appressano o son, tutto e` vano
nostro intelletto; e s’altri non ci apporta,
nulla sapem di vostro stato umano.

Pero` comprender puoi che tutta morta
fia nostra conoscenza da quel punto
che del futuro fia chiusa la porta».”

Inferno, Canto X

„Er sprach: „Uns trägt der Blick nach fernen Dingen,
Wie’s öfters wohl der schwachen Sehkraft geht,
Denn soweit läßt der höchste Herr uns dringen.

Doch naht sich und erscheint, was wir erspäht,
Weg ist das Wissen, und nur durch Berichte
Erfahren wir, wie’s jetzt auf Erden steht.

Darum begreifst du: einst beim Weltgerichte,
Wenn sich der Zukunft Thor auf ewig schließt,
Ganz wird dann unser Willen sein zu nichte.“

Hölle, Gesang X

Die anderen Kunstwerke von Aqua Aura in der Ausstellung entstammen einer Serie, die der italienische Meta-Fotograf in der Zeit der erzwungenen Isolation aufgrund der Pandemie schuf, die seine Heimatstadt so hart getroffen hat. Futuristische, zu Eis gefrorene Landschaften, die die letzten Spuren der Menschheit bewahren, und makroskopische menschliche Zellen, die in Blumen verwandelt wurden, lassen den Betrachter sofort begreifen: Dass die Reflexionen des Künstlers über die Natur, sowie seine Überlegungen über die Schönheit, die Zerbrechlichkeit aber auch die Giftigkeit der Menschheit die eigentlichen Protagonisten dieser Räume sind. 

Wenn man dem Ökosystem abspricht, die perfekte Umgebung für die Existenz von kohlenstoffbasiertem Leben zu sein, und wenn man der menschlichen Anatomie ihre Rolle als Gefäß für Gedanken und Gefühle abspricht, wird der Zukunft der Menschheit jede positive Vorhersage verwehrt.

„Per ch’io mi volsi, e vidimi davante
e sotto i piedi un lago che per gelo
avea di vetro e non d’acqua sembiante“

Inferno, Canto XXXII

„Drum wandt’ ich mich, und vor mir hin erschien
Und unter meinen Füßen auch, ein Weiher,
Der durch den Frost Glas, und nicht Wasser, schien.“

Inferno, Gesang XXXII

Das Konzept der metaphysischen Landschaft ist auch für die Arbeit von Lidó Rico typisch. Das zeigen die Werke aus seiner Serie „Oracle“ in der Ausstellung sehen können. Hier werden Hände zu sakralen Plätzen, die die beunruhigenden, eingekapselten Landschaftsszenen umschließen und den Betrachter zum Nachdenken über die stillen, rätselhaften Fragen, die sie aufwerfen, drängen. Ähnlich wie Dante Alighieri in seiner Divina Commedia Inferno inszeniert Lidó Rico das Elend der Menschheit in seinen winzigen Kreisen, wobei er nicht vergisst, den Betrachter durch den geschickten Einsatz von Spiegeln mit einzubeziehen. Aber gleichzeitig bietet er ein Licht der Hoffnung durch den Einsatz einer massiven Dosis Ironie. Wir alle sollten uns ständig bewusst sein, uns selbst nicht zu ernst zu nehmen.

„Restammo per veder l’altra fessura
di Malebolge e li altri pianti vani;
e vidila mirabilmente oscura.“

Inferno, Canto XXI

Verweilten wir ob einer neuen Spalte,
Und hörten draus den eitlen Laut der Qual,
Und sahn, wie unten tiefes Dunkel walte.

Hölle, Gesang XXI

 

Unten im Projektraum finden Sie die dramatische Videoinstallation von Aqua Aura mit dem Titel SHELTERS – On the very nature of light: Skulpturen, die wie Eisberge geformt sind und Videos eines zeitlich kollabierten 24-Stunden-Nordlichts enthalten.
Die Installation fängt die Wandelbarkeit des Wetters – von Sonnenschein bis Sturm, bei Tag und in der Nacht – im Inneren von Alabaster-Skulpturen ein. Sie ist damit eine eindeutige Metapher für eine innere Reise, genau wie die gesamte Divina Commedia. Auch wenn Dante sich im dunklen Wald wiederfand und Aqua Aura in vereisten Landschaften umherwandert. Auch wenn der eine seine religiösen und politischen Überzeugungen klar zum Ausdruck bringt und verherrlicht, der andere hingegen auf subtile Art und Weise und ohne Worte das präsentiert, was ihm heilig ist – die Suche der Seele nach Erhebung und die Absicht, das Publikum zu Reflexionen außerhalb des Gewöhnlichen zu inspirieren, machen SHELTERS für uns geradezu perfekt dafür, um unsere Reise zu Ehren des bekanntesten italienischen Dichters aller Zeiten zu beenden.

„Nel mezzo del cammin di nostra vita
mi ritrovai per una selva oscura
che‘ la diritta via era smarrita.

Ahi quanto a dir qual era e` cosa dura
esta selva selvaggia e aspra e forte
che nel pensier rinova la paura!

Tant’e` amara che poco e` piu` morte;
ma per trattar del ben ch’i‘ vi trovai,
diro` de l’altre cose ch’i‘ v’ho scorte.“

Inferno, Canto I

„Es war in unseres Lebensweges Mitte,
Als ich mich fand in einem dunklen Walde;
Denn abgeirrt war ich vom rechten Wege,

Wohl fällt mir schwer, zu schildern diesen Wald,
Der wildverwachsen war und voller Grauen
Und in Erinn’rung schon die Furcht erneut:

So schwer, dass Tod zu leiden wenig schlimmer.
Doch um das Heil, das ich dort fand, zu künden,
Will, was ich sonst gesehen, ich berichten.“

Hölle, Gesang I

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